Positionen der Angehörigen von dauerhaft intensivpflichtigen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Insbesondere Kinder und seit dem Kindesalter erkrankte Patienten, die trotz einer fachgerechtenmedizinischen Versorgung dauerhaft auf außerklinische Intensivpflege angewiesensind, werden sowohl auf Grund der höchst heterogenen und oft seltenen Diagnosen, als auch wegen der durch den Krankheitsverlauf beeinflussten Entwicklung zeitlebens einen individuellen Versorgungsbedarf haben, der nicht mit der Regelversorgung von erwachsenen Patienten vergleichbar ist. Hierzu zählen sowohl beatmete junge Menschen, als auch solche, die aufgrund anderer Erkrankungen die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft erfordern.
Bei dieser Patientengruppeist aufgrund des medizinischen und medizintechnischen Fortschritts, derinterdisziplinären Behandlung und einer guten häuslichen Versorgung einezunehmende Lebenserwartung festzustellen. In wachsender Häufigkeitüberschreiten Patienten, die bereits im frühkindlichen Alter einelebenslimitierende Prognose erhalten haben, bei stabilem Versorgungsbedarf dieSchwelle zum Erwachsenenalter. Die sehr unterschiedlichen Grunderkrankungenführen dabei in der Regel zu einer schweren Behinderung, die über dieindividuelle komplexmedizinische Behandlung und lebensbegleitendeRehabilitationsmaßnahmen hinaus eine Versorgung in unterschiedlichenLebensbereichen erforderlich machen. Das Augenmerk richtet sich dabeiinsbesondere auf den Erhalt des Gesundheitszustandes sowie die Ausschöpfungverfügbarer Potentiale zur Verbesserung der Lebensqualität. Die Ermittlung desindividuellen Bedarfes an der Verordnung von AKI darf daher nicht auf eineBewertung des Entwöhnungspotentials beschränkt werden, sondern muss sich an derinternationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung undGesundheit (WHO – ICF 2005) orientieren.
1. Zu den Anforderungen an den besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege
Patienten mit geringer oder keiner Aussicht auf Wiederherstellungihrer Organfunktionen, deren Lebensende bei stabiler Versorgung nicht absehbarist (Bsp. neuromuskuläre Erkrankungen, hoher Querschnitt, schwere neurologischeErkrankungen), sind dauerhaft auf medizinische Behandlungspflege angewiesen (chronisch intensivpflichtige Patienten). Wenn die Erkrankung seit dem Kindesalter anhält, besteht dieser Bedarf in der Regel ein Leben lang. DieTeilnahme an Angeboten zur Bildung und sozialer Teilhabe sowie eine selbstbestimmte Lebensführung setzen bei diesen Patienten die individuelle Begleitung durch eine Pflegefachkraft voraus, um Angebote auch außerhalb des Wohnstandortes wahrnehmen zu können. Dies gilt auch in selbstbestimmten, betreuten und besonderen Wohnformen und Einrichtungen der Behindertenhilfe. Eine Anpassung der Regelungen nach SGB V und SGB IX ist hier auch im Sinne der Rechtssicherheit geboten.
Auch nicht oder nicht dauerhaft beatmete Patienten, bei denenaufgrund anderer Indikationen behandlungspflegerische Maßnahmen unvorhersehbarjederzeit erforderlich werden können, haben einen besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege. Auch bei diesen Patienten ist insbesondere auch in Hinblick auf die individuelle Begleitung zu Bildungs- undTeilhabeangeboten die Versorgung durch eine qualifizierte Pflegefachkraft für spezielle Krankenbeobachtung sicher zu stellen.
Der anspruchsberechtigte Personenkreis ist ausweislich der Gesetzes-begründung angelehnt an die Richtlinie für häusliche Krankenpflege (HKP). Hier ist medizinische Behandlungspflege definiert als Pflegeleistung,die bei Unterbringung in stationären Pflegeeinrichtungen ergänzend zur Regel-leistung der Einrichtung erforderlich ist. In der eigenen Häuslichkeit werden jedoch neben der AKI keine weiteren Pflegeleistungen bewilligt. Um hier eine Unterversorgung ausschließen zu können, muss die medizinische Behandlungspflege in der AKI daher alle Leistungen der Behandlungspflege umfassen. Dies entspricht auch der Beschlussempfehlung des Ausschusses fürGesundheit (BT-Drs. 19/2070, S. 64), wonach die medizinische Behandlungspflege „alle anfallenden Pflegeleistungen“ umfassen soll. Insofern ist hier eine begriffliche Klarstellung erforderlich.
Der in §37c Abs. 1 Satz 2 genannte „vergleichbar intensive Einsatzeiner Pflegefachkraft“ ist zu definieren und gegenüber dem Leistungsanspruchauf häusliche Krankenpflege abzugrenzen.
2. Zu den Anforderungen an die Zusammenarbeit der Leistungserbringer zur Sicherstellung derVersorgungskontinuität und Versorgungskoordination
Regelungen zur Zusammenarbeit der ärztlichen und nicht ärztlichen Leistungserbringer müssen das Recht der Patienten auf gesundheitliche Selbstbestimmung wahren. Insbesondere in der eigenen Häuslichkeit und in selbstbestimmten Wohnformen ist die freie Arzt- und Therapeutenwahl zu gewährleisten.
Die kontinuierliche Versorgung durch qualifizierte Pflegefachkräfteist durch den Kostenträger in allen zulässigen Wohnformen sicher zu stellen. Ausnahmen sind nur mit Zustimmung durch die Patienten oder ihrer gesetzlichen Vertreter im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben zulässig (Bsp. selbst beschaffte Pflegefachkräfte, persönliches Budget).
Eine Beteiligung an der Behandlungspflege durch An- und Zugehörigezur Sicherstellung der Versorgung darf insbesondere bei Kindern und seit demKindesalter erkrankten Patienten die Sicherung des Familieneinkommens, die Fürsorge für weitere im Haushalt lebende Kinder und den Schutzbereich der Familie nicht gefährden. Der Umfang von Ersatzpflege muss daher in jedemEinzelfall geregelt werden und bedarf immer der ausdrücklichen Zustimmung durchPatienten und pflegende Angehörige.
Die Versorgung im persönlichen Budgeterfolgt auf Wunsch der Patienten oder ihrer Vertretungsberechtigten und ist fürbehinderte Menschen ein wesentliches Element der Selbstbestimmung. Hierzu zählt insbesondere auch diefreie Wahl der Leistungserbringer und ihrer Qualifikation. Eine Kombination aus Laienpflege und Fachpflege muss hier auch weiterhin möglich sein.
Die Versorgung durch selbst beschaffte Pflegefachkräfte sichert dieVersorgung in der gewünschten Wohnform, wenn die Krankenkasse keinequalifizierte Pflegefachkraft für AKI stellen kann. Den Versicherten muss esdann freistehen, auch Pflegekräfte ohne eine Zusatzqualifikation für AKI zuverpflichten. Aufwendungen zur Qualifizierung und Organisation dieser Kräftemüssen dann von den Kostenträgern ergänzend getragen werden. Der Anspruch auf Regelversorgung darf hierbei nicht eingeschränkt werden.
Bei seltenen Erkrankungen, komplexen Behinderungen, ungewöhnlichen Verläufen oder chronisch intensivpflichtigen Patienten kann während des Aufenthalts in Kliniken und Einrichtungen die Verordnung von AIP begründetsein, um insbesondere bei Verschlechterung des Gesundheitszustandes eine gleichbleibende Versorgungsqualität zu gewährleisten.
3. Zu den Anforderungen an die Verordnung der Leistungen, der Feststellung des Therapieziels und die Dokumentation des Entwöhnungspotentials
Nach dem Verständnis der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (WHO - ICF, 2005) sind die Wechselwirkungen zwischen Körperfunktionen, Aktivitäten und Teilhabe Grundlage für die Bewertung von Krankheit und damit sowohl für individuelle als auch für gesundheitspolitische Maßnahmen entscheidend. Therapieziele können daher nicht auf die Feststellung des Potenzials zur Beatmungsentwöhnung reduziert werden, sondern müssen insbesondere bei Kindern und seit dem Kindesalter erkranktenPatienten auch den Erhalt der Lebensqualität und einer größtmöglichen sozialenTeilhabe berücksichtigen. Bei entsprechender Diagnose kann auch die Beatmung vorrangig der Verbesserung von Vigilanz und Lebensqualität dienen. Von einer Reduzierung der Beatmungsparameter ist daher abzusehen, wenn der Patient sich hierdurch auch nach erfolgter Aufklärung in seinen Aktivitäten und Teilhabemöglichkeiten beeinträchtigt sieht.
Patienten, die seit dem Kindesalter auf AKI angewiesen sind, haben häufig seltene Erkrankungen oder wegen der verändertenParameter während der kindlichen Entwicklung sehr individuelleKrankheitsverläufe. Diese entziehen sich auch mit zunehmendem Alter denMaßstäben einer medizinischen Regelversorgung. Bei diesen Patienten erfolgt die individuelle Komplexbehandlung interdisziplinär und sektorenübergreifend unter Beteiligung von ärztlichen, pflegerischen und therapeutischen Experten. Für eine bedarfsgerechte Versorgung ist daher die Expertise der langjährig begleitenden medizinischen und rehabilitativen Fachkräfte unerlässlich. Weiterhin sind auch die Teilhabeziele sowie persönliche und familiäre Umständefür die medizinische Versorgung relevant. Beider Feststellung der Therapieziele ist daher die Kompetenz aller beteiligten Fachkräfte einzubeziehen. Dies schließt auch langjährig behandelnde Hausärzte und an der Versorgung beteiligte medizinische Einrichtungen wie Reha-Einrichtungen, SPZ und MZEB ein und gilt insbesondere dann, wenn Therapieziele durch nicht an der Versorgung beteiligte Ärzte oder Kliniken festgestellt werden.
Die Therapieziele sind gemeinsam mit den Patienten festzustellen. Dabei ist deren Selbstbestimmungsrecht zur Sicherung der subjektiv empfundenen Lebensqualität, insbesondere bei medizinischen Eingriffen, Behandlungen und Anordnungen zu wahren. Das Aussetzen oder Pausieren einer medizinisch möglichen Behandlung durch eine aufgeklärte Willens-entscheidung (informedConsent/Dissent) des Patienten oder seiner gesetzlichen Vertreter darf keineLeistungskürzungen am gewünschten Ort der Versorgung begründen.
Die „Einbeziehung palliativmedizinischer Fachkompetenz“ (§37c Abs. 1Satz 5) setzt die Zustimmung des Patienten oder seiner gesetzlichen Vertreter voraus. Sie muss dann insbesondere bei chronisch intensivpflichtigen Patientenden vollen Umfang der Palliation berücksichtigen und nicht allein die Kompetenzvon Palliativmedizinern. Dies beinhaltet insbesondere auch Rehabilitationsmaßnahmen sowie Behandlungen und Eingriffe, die dazu dienen, Einschränkungen zu reduzieren, größtmögliche Aktivität und Partizipation zu ermöglichenoder eine Verbesserung der Lebensqualität zu erzielen, auch wenn damit keineVerlängerung der Lebenserwartung verbunden ist. Insbesondere Kinder und seit dem Kindesalter erkrankte Menschen mit anhaltendem Bedarf an AKI dürfen nicht zu sterbenden Menschen deklariert werden, wenn eine Reduzierung derBeatmungszeit nicht möglich ist.
Insbesondere wenn kaum oder keine Aussicht auf ein Entwöhnungs-potential vorliegt, sind die zur Erhebung und Dokumentation des Entwöhnungs- und Dekanülierungspotentials erforderlichen Arztbesuche und Klinikaufenthalte unddie damit verbundenen Belastungen und Infektionsrisiken nicht gerechtfertigt. Ambulante Behandlungs- und Untersuchungsmöglichkeiten müssen daher flächendeckend ausgewiesen werden und in begründeten Fällen eine verlängerte Geltungsdauer der Verordnungen ermöglicht werden. Bei Folgeverordnungen kann den Versicherten auch die Möglichkeiten der Telemedizin angeboten werden. Insbesondere bei Kindern und seit dem Kindesalter erkrankten Patienten muss die Anwendung der Telemedizin wegen der zumeist seltenen und ungewöhnlichen Verläufe aber auf die langjährig behandelnden Fachärzte begrenzt werden.
So kann z. B. die Verordnung eines teuren Arznei-, Verband- oder Hilfsmittels wirtschaftlich sein, wenn der finanzielle Aufwand für diese Maßnahmen bei gleicher Wirksamkeit geringer ist als der für die sonstnotwendigen Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege (vgl. HKP-Richtlinie).
4. Zu der besonderen Qualifikation der Vertragsärzte, die Leistungen verordnen dürfen
Die seltenen Erkrankungen und ungewöhnlichen Verläufe bei Kindernund seit dem Kindesalter erkrankten Patienten setzen für eine bedarfsgerechte Versorgung die langjährige Begleitung der Patienten durch ihre behandelnden Ärzte voraus. Hier ist auch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientvon besonderer Bedeutung. Die Verordnung von AKI muss daher in dieserPatientengruppe auch künftig durch die langjährig behandelnden Ärzte zulässigsein.
Auch individuellen, dem ambulanten Facharztmangel geschuldeten Versorgungspfaden ist Bestandsschutz einzuräumen, solange eine gleichwertige Versorgung unter Berücksichtigung der damit verbundenen Belastungen für den Patienten nicht gewährleistet ist. Dies gilt insbesondere auch bei der Transition dieser Patientengruppe. Bei jungen Patienten darf der pädiatrische Hausarzt auch aufgrund seiner zentralen Vertrauensstellung nicht aus derVersorgung entlassen werden.
Der Umfang an Folgeverordnungen zur AKI ist für Ärzte in Klinikenund stationären Facheinrichtungen alleine nicht leistbar. Auch sind die mitvermehrten Klinikaufenthalten verbundenen Belastungen und Infektionsrisikeninsbesondere für chronisch kranke Patienten nicht gerechtfertigt. DieAnforderungen an die verordnenden Ärzte müssen daher eine flächendeckendeambulante ärztliche Versorgung sicherstellen. Dies gilt insbesondere auch für verordnungsberechtigteÄrzte der Kinder- und Jugendmedizin.
Um dem besonderen Versorgungsbedarf in der außerklinischen Intensivpflege gerecht zu werden, wird auf den von der DIGAB in ihrer Stellungnahme vom 6. September 2019 zum RISG ausgeführten Vorschlag eines sektorenübergreifenden ambulanten Versorgungsmodells, äquivalent zur speziellen ambulanten Palliativversorgung (SAPV, SApPV), verwiesen. Dezentrale Teams ausärztlichen, pflegerischen und therapeutischen Experten, die aus dem ambulanten und dem stationären Sektor gestellt werden, können eine flächendeckende Versorgung zur Verordnung von Leistungen der AKI aufbauen.
Innerhalb dieser Teams können auch die Möglichkeiten der Telemedizin zum Einsatz kommen.
Der Bedarf an Leistungen der AKI muss durch ein Instrument ermittelt werden, das sich an der ICF orientiert. Vertragsärzte müssen daher nachweislich in der Anwendung der ICF geschult und damit zur Verordnung von AKI berechtigt sein.